ADHS kann auch erst im Erwachsenenalter bemerkt werden. Welche Symptome ADHS mit sich bringt und was die Diagnose bedeutet

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beginnt zwar in der Kindheit, bleibt aber bei etwa 50 Prozent der Betroffenen über das Jugendalter hinweg bestehen. Viele Menschen werden erst als Erwachsene diagnostiziert und fühlen sich wie befreit – endlich wissen sie, warum sie „anders“ sind. Deshalb solltest du dich bei einem Verdacht auf ADHS unbedingt ärztlich beraten lassen, denn die Erkrankung ist gut behandelbar. Hier erfährst du, was die Symptome von ADHS sind, wie sie behandelt werden und an welche Stellen du dich wenden kannst.

Kinder, die im Unterricht ständig aufstehen, herumzappeln oder andere unterbrechen – lange herrschte bei ADHS die Annahme, mit der Pubertät verwächst sich das schon. Heute weiß man: Die Aufmerksamkeitsstörung betrifft auch Erwachsene. Häufig ist jedoch die Hyperaktivität, die bei Kindern so typisch ist, bei Erwachsenen schwächer ausgeprägt. Sie weicht einer inneren Unruhe und Getriebenheit. Die Konzentrationsschwäche dagegen bleibt bestehen und kann zu Problemen im Arbeitsleben führen. Betroffene wirken oft unorganisiert, vergessen Termine oder kommen zu spät. Ein weiteres Merkmal von ADHS bei Erwachsenen: Sie verhalten sich oft impulsiv im Kontakt mit anderen Menschen – es kann dadurch schwer werden, stabile Beziehungen aufzubauen.

ADHS hat immer eine Vorgeschichte

In den letzten Jahren ist die Aufmerksamkeit für ADHS gewachsen – die Zahl der Diagnosen ist gestiegen. In sozialen Medien, Interviews und Podcasts sprechen Betroffene ganz offen über ihr Leben mit der Erkrankung. Das bemerkt auch Prof. Thomas Ethofer, der die ADHS-Ambulanz der Universität Tübingen leitet. Bei ihm häufen sich Anfragen von erwachsenen Patient:innen mit Verdacht auf ADHS. Nicht immer trifft dies auch zu – nur wer vor dem 12. Lebensjahr Symptome hatte, gilt als erkrankt.  „ADHS zieht sich wie ein roter Faden durch den Lebenslauf, das ist keine Erkrankung, die phasenhaft auftritt“, sagt er. „Um Hinweise für eine Erkrankung zu bekommen, lassen wir uns beispielsweise die Grundschulzeugnisse zeigen. Bei Betroffenen finden sich dort Hinweise auf ADHS, sie waren unaufmerksam, haben gestört oder konnten dem Unterricht nicht folgen.“

Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit – was nun?

ADHS bedeutet nicht zwingend, dass auch eine Therapie erforderlich ist. „Ich rate dazu, wenn in verschiedenen Lebensbereichen Probleme auftreten und das Sozial- oder Berufsleben beeinträchtigt ist“, sagt Prof. Ethofer. Außerdem könne es helfen, bestimmte Therapieziele festzulegen – etwa eine Ausbildung erfolgreich zu beenden. Denn: „Nichtbehandlung kann einen biografischen Schaden verursachen. Etwa wenn jemand aufgrund der Symptome keinen Schulabschluss schafft.“ Erste Anlaufstelle sind Fachärzt:innen für Psychiatrie oder Psychotherapie, Neurolog:innen oder Universitätskliniken. Sie schließen im ersten Schritt andere psychische Störungen mit ähnlichen Symptomen aus – wie etwa das Borderline-Syndrom oder eine bipolare Störung. Danach kann die Therapie beginnen. Nach jetzigem Stand ist die Einnahme von Stimulanzien wie etwa Ritalin die effektivste Methode. „Leider gibt es wenig Evidenz dafür, dass alternative Behandlungen wie Verhaltenstherapie bei ADHS genauso wirksam sind“, erklärt Prof. Ethofer. Es spricht aber nichts dagegen, sie ergänzend einzusetzen. Auch Sport kann viele Betroffene unterstützen.

Leben mit ADHS

Mit ADHS lässt sich ein erfülltes Leben führen, manche Betroffene sehen die Störung sogar als Bereicherung – und sind dennoch dankbar für die Möglichkeit, mit Medikamenten im Alltag besser zurecht zu kommen. „Meine Patient:innen sagen etwa, jetzt schaffe ich das, was ich mir vornehme, komme beruflich und privat gut zurecht.“ Prof. Ethofer rät seinen Patient:innen aber auch, die Medikamente nach einiger Zeit versuchsweise abzusetzen: „Am besten, man sucht sich einen Zeitraum aus, in dem es nicht so stressig zugeht. Und dann schaut man einfach, wie man ohne Medikation zurechtkommt.“ Denn: Je älter Patient:innen sind, desto mehr schwächt sich ADHS in der Regel ab. „Die Mehrheit kommt irgendwann an einen Punkt, an dem sie keine Medikamente mehr braucht.“

Ein „normales Leben“ ist trotz ADHS möglich

Wie entsteht ADHS?

Fest steht inzwischen: Es gibt bei ADHS eine starke erbliche Komponente. Fachleute schätzen, dass diese etwa 70 Prozent ausmacht. Daher lohnt es sich, bei einem Verdacht auch auf die Biografie der eigenen Eltern zu schauen. Die restlichen 30 Prozent setzen sich aus noch ungeklärten Risiko- und Umweltfaktoren zusammen.

Typische Symptome bei ADHS:

– Impulsivität
– Emotionale Aufgewühltheit
– Schwierigkeiten, Aufgaben zu priorisieren
– Stimmungsschwankungen
– Konzentrationsschwierigkeiten
– Niedrige Frustrationstoleranz
– Prokrastinieren
– Andere im Gespräch unterbrechen
– Hyperaktivität, innere Unruhe
– Risikoreiches Verhalten (etwa im Straßenverkehr)
– Begleiterkrankungen wie Depression, Sucht (Alkohol, Drogen) oder Angststörung

Erfahrungsbericht einer Betroffenen:

Diagnose: ADHS im Erwachsenenalter

Wie ist es, erst im Erwachsenenalter zu erfahren: Ich habe ADHS?
Uns hat die 43-jährige Angela von ihrem Weg zur Diagnose und ihrem Leben mit der Störung erzählt.
Wenn Angela auf ihre Kindheit zurückblickt, wundert es sie, dass niemandem etwas aufgefallen ist. „Ich habe so wild gespielt und getobt, dass meine Mutter immer die Adresse vom nächsten Notdienst parat haben musste.“ Im Unterricht kann sie am besten folgen, wenn sie nebenher Kästchen auf Papier malen darf. „Einfach nur dasitzen und zuhören hat überhaupt nicht geklappt. Da gingen mir einfach viel zu viele Gedanken im Kopf herum und ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren.“ Heute weiß Angela: Sie hatte damals intuitiv eine Strategie gefunden, mit ADHS umzugehen.
Als Teenager war Angelas Leben turbulent: Die Eltern trennten sich, sie zog mit der Mutter von Norddeutschland nach Nordrhein-Westfalen. „Ich bin auf der Hauptschule gelandet, war dort völlig unterfordert und habe dadurch nur noch mehr im Unterricht gestört. Irgendwann hatte ich psychosomatische Symptome und blieb morgens mit Bauchschmerzen im Bett.“ Obwohl sie zu dieser Zeit gegen Depressionen behandelt wird, kommt niemand auf die Idee, Angela könnte ADHS haben. Sie verlässt die Schule schließlich mit einem Hauptschulabschluss: „Ich war einfach nur froh, raus zu sein.“

Die Diagnose bringt endlich Klarheit
Angelas beruflicher Weg verläuft nicht geradlinig, sie findet aber Jobs, in denen sie erfolgreich ist. „Am besten hat es funktioniert, wenn ich kreativ sein konnte oder als Vertreterin unterwegs war.“ Angela ist jetzt Anfang 30, immer wieder holen sie depressive Episoden ein, sie fühlt sich rastlos, kommt nirgends so richtig an. Ihr Umfeld spiegelt ihr immer öfter, dass es nicht einfach ist, mit ihr zurechtzukommen. Nach einem Suizidversuch zieht sie die Reißleine, lässt sich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Mit dieser Entscheidung soll alles anders werden: „Es hat keine fünf Minuten gedauert, bis das Thema ADHS im Raum stand.“ Nach Tests und einem Blick in ihre Grundschulzeugnisse steht fest: Es gibt einen Grund für ihre Rastlosigkeit und die Impulsivität. „Das war der Moment, an dem mir ganz viele Steine vom Herzen gefallen sind. Endlich wusste ich, mit was ich es zu tun hatte. Ich habe verstanden: Mein Gehirn funktioniert anders.“ Dinge, die für andere Menschen einfach sind, fallen ihr schwer. Aber umgekehrt kommt sie mit vielen Situationen auch besonders gut zurecht, etwa wenn eine unvorhergesehene Situation eintritt und sie schneller als andere eine Lösung parat hat. „Seit ich weiß, was ich habe, sehe ich die ADHS nicht mehr als Nachteil.“
Zusätzlich hilft ihr die Medikation im Alltag: „Ich bin ruhiger geworden und rege mich nicht mehr so leicht auf. Und ich muss nicht mehr alles ausdiskutieren, das hat auch meine zwischenmenschlichen Beziehungen verbessert.“ Bei manchen Aufgaben holt sie sich Hilfe. „Wenn ich aufräumen muss, erzähle ich einem Freund davon. Der ruft mich eine Stunde später an und fragt, ob ich es geschafft habe.“ Außerdem hat sie sich von alten Ansprüchen verabschiedet. Kündigt sich Besuch an, steigt nicht wie früher die Panik in ihr hoch. „Ich habe nicht mehr den Anspruch, dass es aussieht wie im Möbelhaus. Ich habe meine Ordnung und die funktioniert für mich – das kann ich heute akzeptieren.“

Zur Person:
Angela engagiert sich im Selbsthilfeverein ADHS Deutschland, klärt auf Messen oder Kongressen über die Störung auf und organisiert Veranstaltungen.
Sie fühlt sich angekommen und sieht die Diagnose sogar als Bereicherung. Aus Rücksicht auf ihre Familie bliebt sie hier lieber anonym.

„Eigentlich ist die Bezeichnung ADHS falsch – ich habe ja kein Aufmerksamkeitsdefizit. Im Gegenteil: Ich bekomme alles mit, nur eben ungefiltert.“

Unser Experte: Prof. Thomas Ethofer ist Oberarzt und Leiter der Spezialsprechstunde ADHS im Erwachsenenalter am Universitätsklinikum Tübingen.

Interview

ADHS bei Kindern – was Eltern wissen sollten

Etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind von der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen. Sie können sich schlecht konzentrieren, sind unruhig und impulsiv – eine Herausforderung für den Familienalltag und die schulische Karriere. Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Ekkehart D. Englert hat uns die wichtigsten Fragen beantwortet.

Meist entwickelt sich die Störung allmählich und wird dann sichtbar, wenn die Anforderungen steigen. Typischerweise werden die Kinder im späten Kindergartenalter dadurch auffällig, dass sie impulsiv oder unruhig sind und sich leicht ablenken lassen. In meiner Praxis sitzen die Eltern mit ihren Kindern dann meist nach dem Schulstart.

Sie sollen auf einmal stundenlang im Klassenzimmer sitzen, Dinge tun, die sie uninteressant finden, und das auch noch in einer großen Gruppe – das ist eine große Herausforderung für Kinder mit ADHS. Denn entgegen vielen Annahmen können sie sich durchaus konzentrieren – aber sie können nicht willentlich steuern, was gerade in ihrem Fokus ist. Ich höre oft von Eltern: Wenn das Kind in sein Computerspiel vertieft ist, lässt es sich stundenlang nicht ablenken. Das lässt sich aber nicht auf die Lerninhalte übertragen, die das Kind gerade nicht spannend findet.

Das kann einem durchaus so vorkommen, lässt sich aber überhaupt nicht belegen. Internationale Studien kommen allesamt zu dem Ergebnis, dass es keinen Trend bei der Häufigkeit von ADHS bei Kindern gibt. Die Zahlen der betroffenen Kinder liegen seit gut 20 Jahren bei etwa fünf Prozent.

Die erste Adresse sind die behandelnden Kinderärzt:innen. Viele davon kennen sich gut mit ADHS aus und behandeln betroffene Kinder. Gut aufgehoben sind Eltern für Diagnose und Behandlung immer bei Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

Wir Ärzt:innen gehen mit dem Thema Medikation außerordentlich verantwortungsbewusst um. Ob sie nötig ist, hängt vom Schweregrad der ADHS ab. Bei einer leichten Ausprägung versuchen wir, mit pädagogischen Mitteln wie Coaching oder Verhaltenstherapie zu helfen – besonders ältere Kinder können dadurch ein gutes Verständnis der Erkrankung entwickeln. Es gibt aber Kinder, die schon sehr früh stark betroffen sind. Ein Kind, das ständig in Bewegung ist, auf Dinge steigt, nicht zuhört, hat in einem Unterrichtssetting keine Chance. Da geht es nicht anders, als mit einer medikamentösen Einstellung zu beginnen, um dem Kind den Spaß am Lernen nicht zu nehmen.

Ja, absolut. Wenn die Kinder trotz guter Begabung nur schulische Misserfolge haben, dann sind sie frustriert und verweigern irgendwann alles, was mit Schule zusammenhängt. Wenn es ungünstig läuft, fallen sie dann komplett aus dem Schulsystem heraus und schaffen keinen Abschluss. Das kann das ganze Leben negativ beeinflussen.

Wichtig ist, die Familien langfristig engmaschig zu begleiten. Mindestens einmal im Jahr sollte dann gemeinsam versucht werden, die Medikamente abzusetzen. Denn es kann sein, dass sich die Kontrollmechanismen besser ausgebildet haben und das Kind ohne Medikament oder mit einer niedrigeren Dosierung zurechtkommt. Oder dass ein anderes Medikament besser mit dem Alltag vereinbar ist. Man muss ständig aktiv mit dem Medikament arbeiten – kein guter Arzt, keine gute Ärztin, wird sagen: Ok, das nimmst du jetzt die nächsten Jahre durchgängig.

Viele Kinder brauchen die medikamentöse Behandlung tatsächlich nur im Schulalltag und können am Wochenende oder in den Schulferien auf sie verzichten oder sie reduzieren. Das lässt sich aber nicht verallgemeinern und ist immer ein Abwägen von Ärzt:innen und betroffenen Familien. Gerade bei älteren Kindern stehen an den Wochenenden komplexere Aufsätze an, oder es wird in den Ferien ein Praktikum absolviert. Wichtig finde ich, dass die Kinder und später Jugendlichen ein Bewusstsein für das Medikament entwickeln: Wie wirkt das? Was macht das mit mir? Wann brauche ich es überhaupt? Ich habe einige Patient:innen, die inzwischen studieren und ein gutes Gefühl dafür haben, wann sie etwas einnehmen und wann nicht.

„Medikation kann eine Investition in die berufliche Zukunft sein“

Unser Experte: Dr. Ekkehart D. Englert ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Helios Klinikum in Erfurt.


Dieser Beitrag erschien zuerst in einer Kurzfassung in unserem MAGAZIN fürs LEBEN, Ausgabe 2/2024. Unser Mitgliedermagazin erscheint dreimal im Jahr und bietet dir viele spannende Themen. Jetzt die aktuelle Ausgabe online lesen!

Bei Fragen sind wir gerne für Sie da!

0800/664 88 08

Von Montag bis Donnerstag, 08:00 bis 17:00 Uhr, sowie freitags von 08:00 bis 13:00 Uhr stehen Ihnen unsere Berater:innen im Krankheitsfall und bei sonstigen Themen zur Verfügung.