Teil 6 unserer Serie zur Epigenetik | Welchen Einfluss könnte das Neandertaler-Gen auf den Verlauf der Covid-19-Erkrankung haben?
Ob man zur Risikogruppe gehört, entscheidet nicht alleine über die Schwere einer Covid-19-Erkrankung. Genetik und Epigenetik reden mit. Diese Erkenntnis wird Vorbeugung und Therapie ernster Fälle verbessern
Neue Studien zeigen: Auch die Molekularbiologie der Betroffenen prägt den Verlauf einer Infektion mit dem neuen Coronavirus. Deshalb sind sogar junge Menschen nicht immer vor einem schweren Verlauf der Infektion geschützt. Und manche Alte und Vorerkrankte entwickeln trotz theoretisch hohem Risiko kaum Symptome.
Im Angesicht des neuen Coronavirus sind alle Menschen gleich. Das sollte man zumindest meinen. Doch die Realität sieht anders aus. Selbst Menschen gleichen Geschlechts und Alters mit vergleichbaren Vorerkrankungen und ähnlichem Körpergewicht leiden mitunter an einer Covid-19-Infektion sehr unterschiedlich stark. Manche sterben oder kämpfen über Monate mit schweren Folgeschäden. Andere zeigen trotz nachgewiesener Infektion keine oder nur milde Symptome.
Was aber ist das Geheimnis hinter den unterschiedlichen Covid-19-Verläufen? Das war bis vor kurzem unbekannt, doch jetzt häufen sich die Hinweise, dass die Genetik und die Epigenetik gleichermaßen eine Rolle spielen. Es entscheiden also sowohl der von den Vorfahren geerbte Text der DNA, als auch die nebengenetisch aktive Umgebung des Erbgutmoleküls.
Erfolgreiche Spurensuche in Patientendaten aus Spanien und Italien
Im einen Fall sind es bestimmte Genvarianten, die dafür sorgen, dass die Menschen etwas unterschiedliche Biomoleküle erzeugen und dadurch widerstandsfähiger oder anfälliger sind als andere. Man könnte auch sagen, die Hardware der Zellen unterscheidet sich. Im anderen Fall sind es Unterschiede bei den epigenetischen Strukturen. Diese schenken unseren Zellen ein individuelles Programm. Kleine biochemische Anhängsel, die an oder neben der DNA einer Zelle sitzen, entscheiden wie Dimmer oder Schalter darüber, welche ihrer Gene die Zelle besonders gut benutzen kann und welche nicht.
Das verändert nicht die Art der Biomoleküle – Enzyme, Botenstoffe, Rezeptoren, Bausubstanzen und ähnliches – sondern ihre Häufigkeit und Zusammensetzung in und außerhalb der Zelle. Der Text der DNA wird durch die Epigenetik interpretiert und in Wechselwirkung mit der Umwelt verschieden stark ausgelesen. Um im Bild zu bleiben, ist es in diesem Fall also die jeweilige Software der Zellen, die das Krankheitsrisiko beeinflusst. Und die wurde auch durch die individuelle Vergangenheit der Infizierten geprägt.
Wie wichtig der Text der Gene zu sein scheint, also die Genetik, folgt besonders eindrucksvoll aus den Analysen eines großen europäischen Teams von Genetikerinnen und Genetikern. Die „Severe Covid-19 GWAS Group“ fahndete in Patientendaten aus Spanien und Italien nach Varianten im Erbgutmolekül DNA, die bei solchen Menschen besonders häufig sind, die schwer an Covid-19 erkranken. Rasch wurde das Team fündig: Eine Gruppe von Genen auf dem Chromosom Nummer drei und ein Teil der DNA, der über unsere Blutgruppen mitentscheidet, sind bei schwer erkrankten Menschen auffällig häufig verändert.
Noch weiß zwar niemand, ob und wie die beteiligten Gene die Krankheit direkt beeinflussen. Es ist auch nicht bekannt, welche Gene der auffälligen DNA-Abschnitte genau betroffen sind. Schließlich handelt es sich bei den Resultaten um bloße, mit Hilfe der Mathematik entdeckte Korrelationen. Eines aber ist sicher: Die Ergebnisse liefern aussichtsreiche Ansatzpunkte für weitere Forschungen. Gut möglich, dass zukünftige Coronavirus-Therapien und Diagnosemethoden an der nun eingekreisten molekularbiologischen Hardware ansetzen werden.
Der wichtigste genetische Risikofaktor für schwere SARS-CoV-2-Infektionen
Denn die entsprechenden Genvarianten sind definitiv mit unserem Schicksal verknüpft. Entweder verändern sie das Erkrankungsrisiko direkt oder sie weisen indirekt auf andere Risikofaktoren hin. Zumindest bei dem Abschnitt auf dem Chromosom Nummer drei seien die ersten Resultate mittlerweile sogar durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestätigt worden, sagte die Lübecker Genetikerin Jeanette Erdmann dem Science Media Center. Es handele sich um den „wichtigsten genetischen Risikofaktor für schwere SARS-CoV-2-Infektionen und Krankenhausaufenthalte“.
Der Leipziger Evolutionsbiologe Hugo Zeberg benennt das Risiko gegenüber spektrum.de noch etwas genauer: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die diese Genvariante geerbt haben, bei einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 künstlich beatmet werden müssen, ist etwa dreimal höher.“ Mit seinem Kollegen Svente Pääbo veröffentlichte Zeberg unlängst Hinweise, dass diese genetische Auffälligkeit von Neandertalern kommt. Sie stammt aus einer Zeit, als sich beide Arten miteinander vermischten.
Trotz ihrer offensichtlichen Nachteile in der Coronakrise hat sich die genetische Auffälligkeit also bis heute bei einigen von uns im Laufe der Evolution seit rund 40.000 bis 60.000 Jahren gehalten. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Genvariante auch Vorteile mit sich bringt, vermutet der Kieler Molekularbiologe Andre Franke: „Der größte Teil des Neandertaler-Genoms, etwa 95 Prozent in unseren Genomen“, sei im Laufe der Evolution wieder verschwunden. Da die neu entdeckte Coronarisiko-Genvariante bis heute geblieben sei, müsse sie „auch eine positive Rolle spielen.“ Eventuell sorge sie für ein besonders aktives Immunsystem. Das ist zwar grundsätzlich gut, kann bei einer Corona-Infektion in Kombination mit zusätzlichen Risikofaktoren wie Übergewicht, Herzproblemen oder einem hohen Alter aber auch nachteilig sein.
Die Gene der Neandertaler scheinen Vor- und Nachteile zu haben
Jedoch ist umstritten, ob die entsprechenden Genvarianten tatsächlich aus der DNA der Neandertaler stammen. Jeanette Erdmann fand noch im Sommer die Datenlage angesichts einer Vorabpublikation „viel zu dünn“. Seitdem wurde die Studie allerdings von unabhängigen Expertinnen und Experten begutachtet und vom weltweit führenden Fachblatt Nature akzeptiert.
Etwa die Hälfte aller Menschen in Südasien und rund 16 Prozent der Menschen in Europa tragen das mutmaßliche Neandertaler-Erbe und mit ihm das genetisch verankerte erhöhte Corona-Risiko der Nature-Studie zufolge in ihrer DNA. Besonders häufig existiere die Variante bei Menschen aus Bangladesch (63 Prozent). Das passt gut ins Bild. Denn von diesen weiß man tatsächlich bereits, dass sie an Covid-19 oft ernsthafter erkranken als der Durchschnitt.
Lebensbedrohliche Verläufe frühzeitig erkennen
In einem nächsten Schritt möchten die Forscherinnen und Forscher nun natürlich herausfinden, wie die neu entdeckten Coronarisiko-Genvarianten die Menschen biologisch beeinflussen. Sie fahnden fieberhaft nach neuen Methoden, um besonders gefährdete Menschen und lebensbedrohliche Verläufe frühzeitig zu erkennen und besser zu behandeln. Es geht um die möglichst lückenlose Aufklärung der Krankheitsmechanismen sowie um deren personalisierte und präzise Bekämpfung.
An diesem Punkt kommt auch die Epigenetik ins Spiel, also die Software der Zellen, die von der Umwelt und der Vergangenheit der Patienten mitgeprägt wurde. Es sind nämlich die nebengenetischen Schalter und Dimmer, mit deren Hilfe die Zellen unseres Körpers auf ihre Umgebung und die Herausforderungen des Lebens reagieren. Anders als die Gene, die nur selten und noch dazu zufällig mutieren, können sich die epigenetischen Strukturen in kurzer Zeit und als Reaktion auf äußere Einflüsse gezielt verändern. Sie helfen Lebewesen bei ihrer biologischen Entwicklung und bei der kurzfristigen Anpassung an schwankende Umweltbedingungen. Das macht sie zu besonders aussichtsreichen Kandidaten für zukünftige Ansätze der Covid-19-Diagnostik und Behandlung.
Coronaviren manipulieren die Epigenetik ihrer Wirtszellen
Schon im Jahr 2017 – also lange vor dem Auftreten von SARS-CoV-2 – wiesen die US-amerikanischen Epidemiologin Alexandra Schäfer und ihr Kollege Ralph Baric darauf hin, dass Coronaviren wie SARS-CoV-1 oder MERS die Epigenetik ihrer Wirtszellen verändern. Auf diesem Weg scheinen sie befallene Zellen so umzuprogrammieren, dass diese besonders viele neue Viren erzeugen.
Dies lässt die Genetik der Zellen unberührt, verändert aber zutiefst die Menge und Art der Gene, die gerade aktiv sind. Damit manipuliert das Virus die Identität der von ihm befallenen Zellen. Gelingt es Forschenden eines Tages, diese epigenetischen Prozesse gezielt zu unterbinden, hätten sie ein potenziell hochwirksames Gegenmittel gegen die Viren in Händen.
Vor allem aber erklärt die Epigenetik zum Teil, warum manche Menschen sehr viel ernsthafter erkranken als andere. Verantwortlich scheinen nebengenetische Unterschiede des Immunsystems der Infizierten zu sein – aber auch die Epigenetik jener Zellen, über die die Viren in den Körper eindringen.
So gibt es Hinweise, dass manche Impfungen indirekt auch gegen Covid-19 helfen können. Vermutlich trainieren diese Impfungen genauso wie bereits überstandene Infektionen nicht nur das spezifische Immunsystem der Geimpften, das sich zielgenau gegen die vorhandene Art von Erregern richtet. Vielmehr scheinen sie zusätzlich die unspezifische, so genannte angeborene Immunantwort zu fördern.
Doch nicht immer ist ein besonders aktives Immunsystem gut für Corona-Patientinnen und Patienten. Manchmal kommt es als Reaktion auf den Krankheitserreger zu einer übermäßigen Ausschüttung von Zytokinen genannten Botenstoffen, die Entzündungsreaktionen anstoßen. Startet ein solcher Zytokinsturm, leiden eine Menge innerer Organe, und Covid-19 nimmt einen gefährlichen Verlauf. Das Robert Koch-Institut spricht in diesem Fall von der „späten, hyperinflammatorischen Erkrankungsphase“. Das Immunsystem der Patientinnen und Patienten schießt dann sozusagen über sein Ziel hinaus.
Nicht zuletzt, um diese fatale Überreaktion zu bekämpfen, erhalten Covid-19-Patientinnen und Patienten, die zusätzlichen Sauerstoff verabreicht bekommen oder künstlich beatmet werden müssen, häufig das Medikament Dexamethason – so zum Beispiel auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Es simuliert eine allgemeine Stressreaktion, unterdrückt so das Immunsystem und dämpft damit auch den Sturm der Entzündungsboten.
Nun gibt es schlüssige Indizien, dass bei Menschen mit einem hohen Risiko für bedrohliche Covid-19-Verläufe die epigenetische Regulation solcher Gene in eine ungünstige Richtung verändert ist, die die Ausschüttung der Zytokine überwachen. Das hätte zur Folge, dass die Einen sehr viel eher zum Zytokinsturm neigen als die Anderen.
Weitere Studien weisen darauf hin, dass die Epigenetik eine wichtige Rolle für den Verlauf einer Coronavirus-Infektion spielt. So verändert sich durch die Epigenetik die Zahl der Andockstellen für das Virus und damit die Wahrscheinlichkeit für eine Ansteckung. Je mehr Andockstellen die Zellen besitzen, desto mehr Viren dringen theoretisch ein, und desto ernsthafter dürfte die Krankheit anschließend verlaufen. Von dieser Erkenntnis erhofft sich die Wissenschaft neue Ansätze für die Diagnose, Behandlung und Verlaufsprognose von Covid-19.
Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin Erbe & Umwelt bei RiffReporter erschienen und wurde als 6. Teil der Epigenetik-Serie für unseren Blog in einer autorisierten, leicht gekürzten Version übernommen.
Lust auf mehr? Hier findest du alle bisherigen Beiträge der Epigenetik-Reihe.
Mehr von Peter Spork gibt es in diesem Video (von unserem YouTube-Channel).
„Gesundheit ist kein Zufall“ heißt der Vortrag, den er 2019 für die Belegschaft der BKK ProVita hielt und den wir aufzeichnen durften.
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