Geburtsschmerz neu denken

Geburtsfreude versus Geburtsschmerz – So wird die Entbindung zum positiven Erlebnis  

Ein wichtiger Aspekt jeder Entbindung ist der Geburtsschmerz. Eine Geburt ist eigentlich ein ganz natürlicher Vorgang. Für viele Eltern ist sie ein sehr einschneidendes Erlebnis, das sie nicht missen möchten. Es gibt aber auch viele Frauen – und Männer –, die negative Erfahrungen bei der Geburt ihres Kindes machen. In diesem Beitrag erfahren Sie das Wichtigste über den Geburtsschmerz: Wie er entsteht, warum er so stark ist und welche Maßnahmen Frauen dabei helfen, besser damit zurechtzukommen.

Rückblick: Seit etwa 1940 etablierte sich in Deutschland der Trend zu immer mehr Klinikgeburten – damals noch etwas für Wohlhabende, die sich den modernen Fortschritt der Medizin leisten konnten. Heute entbinden fast alle Frauen in der Klinik, fast jedes dritte Kind (rund 30,5 Prozent) kommt in Deutschland per Kaiserschnitt (Sectio) zur Welt. Manchmal ist er medizinisch notwendig, manchmal entscheiden sich Paare vorab für einen Kaiserschnitt – häufig aus Angst vor dem natürlichen Geburtsvorgang und den damit verbundenen Schmerzen; manchmal auch, um körperliche Folgen einer natürlichen Geburt zu vermeiden. Ein geplanter Kaiserschnitt ist aber ein umstrittenes Thema.

Trendwende: Natürliche Geburt?

Kliniken profitieren in der Regel von geplanten Kaiserschnitten: Eine spontane Geburt dauert unter Umständen viele Stunden und beansprucht wechselndes Klinikpersonal. Bei einem organisierten Kaiserschnitt können die Ressourcen der Klinik gezielter eingesetzt werden.

Doch dieser Trend scheint abzuebben: Immer mehr Frauen wünschen sich wieder eine herkömmliche Geburt ohne technische Hilfsmittel, mit entsprechender Geburtsvorbereitung und natürlichen Entspannungstechniken. Auch viele Mediziner raten Müttern (wenn möglich) weiterhin zur natürlichen Geburt als erster Wahl. Die „natürliche Geburt“ ist also kein Auslaufmodell.

Vorteile der natürlichen Geburt

Eine natürliche Geburt hat Vorteile für die Mutter wie auch für das Kind: Anders als bei einem (geplanten) Kaiserschnitt, geht das Baby bei einer natürlichen Geburt Schritt für Schritt durch den Geburtsprozess und kommt am Ende in den wohligen Armen der Mutter an. Die Wehen, also die Kontraktionen der Gebärmuttermuskulatur, bereiten das Kind auf die Geburt vor. Stresshormone, die während der Geburt beim Kind ausgeschüttet werden,

  • sorgen für eine bessere Atmung des Kindes nach der Geburt,
  • bringen den Kreislauf in Schwung,
  • vermeiden Unterzuckerung nach der Geburt,
  • aktivieren den Stoffwechsel und die Thermoregulation (Aufrechterhaltung einer konstanten Körperkerntemperatur von etwa 37°C).

Der ausgeschüttete Hormoncocktail sorgt bei Mutter und Kind für höchste Wachsamkeit, die wiederum für die Bindung zwischen beiden sehr wichtig ist. Bei der Mutter wird die große Anstrengung einer natürlichen Geburt gefolgt von einem intensiven Glücksgefühl.

Oft klappt die Umstellung von der Schwangerschaft ins Wochenbett problemloser als bei Kaiserschnitt-Geburten. Die ausgeschütteten Hormone regen die Milchproduktion an und tragen zum Stillerfolg bei. Außerdem haben die Frauen nicht mit den Folgen einer Operation zu kämpfen und erholen sich schneller von der Geburt.

Neben den vielen überzeugenden Vorteilen, gibt es natürlich auch Risiken einer natürlichen Geburt:

  • Verletzungen im Dammbereich
  • Blutungen nach der Geburt
  • Vaginal operative Geburt (Geburt mit Anwendung einer Geburtszange oder einer Saugglocke am fetalen Kopf)
  • Inkontinenz
  • Geburtstrauma
  • Beschwerden beim Geschlechtsverkehr
  • bleibende Beckenbodenschädigungen mit Tiefertreten der Vagina und der Gebärmutter

Das Kind ist auf eine vaginale Geburt gut vorbereitet. Bei Komplikationen während der Geburt, die für das Kind gefährlich sein können, wie z.B. Sauerstoffmangel, kann in der Regel ein rascher Kaiserschnitt durchgeführt werden.

Gesundheit für Mutter und Kind sind am wichtigsten

Bei der Entscheidung für eine natürliche Geburt oder einen Kaiserschnitt sollte immer die Gesundheit einen hohen Stellenwert haben – und zwar die Gesundheit der Mutter und des Kindes.

Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die die Gesundheit von Mutter und Kind schon während der Schwangerschaft beeinflussen und sich auf die Geburt auswirken. Viele „stoffliche“ Gefahren, wie etwa Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, sind uns bestens bekannt. Was aber ist mit psychischen Stressoren?


Neueste Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie (PNI): Wie viel Stress in der Schwangerschaft ist in Ordnung?

Die gute Nachricht vorweg: Ein gewisses Ausmaß an Stress in der Schwangerschaft ist völlig normal und schadet dem Ungeborenen nicht. Es gibt hier ganz natürliche Schutzbarrieren, die das Kind vor einem „Zuviel“ an Stresshormonen schützen.

Je nachdem, wie stark und intensiv die Belastungen jedoch sind und in welcher Phase der Schwangerschaft sie auftreten, können sie sich unter bestimmten Umständen auch auf das ungeborene Kind auswirken. Das Risiko für vorzeitige Wehen und Frühgeburten kann dadurch steigen.

Das Kind im Mutterleib reagiert bereits sehr sensibel auf das, was „draußen“ passiert. Die werdende Mutter ist sozusagen die Vermittlerin zwischen der Außenwelt und dem Kind. Mutter und Kind sind über die Nabelschnur untrennbar miteinander verbunden. Nicht nur wichtige Nährstoffe gelangen so zum Kind, auch Informationen über psychische Befindlichkeiten der Mutter können das Kind erreichen.

Doch aufgepasst: Die Väter sind nicht außen vor. Das, was die Mutter in der Schwangerschaft erlebt (z.B. Freude, Ärger, Unterstützung), hängt natürlich auch mit dem Partner, in der Regel der zentralen Bezugsperson der Schwangeren, zusammen. Auch gesellschaftliche Faktoren, wie etwa die finanzielle Situation, in der sich die werdenden Eltern befinden, können eine Rolle spielen.

Aktuelle Beobachtung: Weniger Frühchen während des Corona-Lockdowns

Während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 konnten einige Kliniken rund um den Globus einen Rückgang der Frühgeburten-Raten beobachten. Erste Auswertungen von zwei Forschergruppen aus Irland und Dänemark belegen, dass es in dieser Zeit weniger Fälle von extremen Frühgeburten als normalerweise gab. Auch in Deutschland zeigten sich in einigen Krankenhäusern ähnliche Trends. Eine statistische Auswertung für Deutschland gibt es aber noch nicht. Womit der Rückgang der extremen Frühgeburten zusammenhängt, ist eine Frage, die viele Forscher und Kliniken derzeit noch umtreibt.

Möglicherweise kam der vermehrte Rückzug in die eigenen vier Wände gerade Schwangeren mit einem erhöhten Ruhebedürfnis zugute. Solche Erkenntnisse könnten uns dabei helfen, in Zukunft die Gesundheit von Schwangeren und heranwachsendem Leben bestmöglich zu schützen. Auch wenn die moderne Medizin zum Glück gute Möglichkeiten bereitstellt, frühgeborenen Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, darf das erhöhte Risiko von Frühchen für unterschiedliche Erkrankungen nicht unterschätzt werden.


Warum gibt es eigentlich Geburtsschmerz?

Die Tatsache, dass ausgerechnet eine Geburt mit so starken Schmerzen verbunden ist, erscheint auf den ersten Blick paradox: Sollte das nicht der normalste Vorgang überhaupt sein?

Ja – und das ist er auch! Viele Mütter – und auch Väter – berichten von der Entbindung als einem ihrer ursprünglichsten, natürlichsten und elementarsten Erlebnisse, das sie auf keinen Fall missen möchten.

Die gewaltigen Schmerzen, die bei einer Entbindung auftreten, sind völlig normal und haben für den Geburtsvorgang eine wichtige Bedeutung: Der eintretende Schmerz ist ein wichtiges Signal für die werdende Mutter, einen sicheren Ort aufzusuchen und sich Unterstützung von vertrauten Personen zu sichern, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Der Schmerz versetzt die Frau gleichzeitig in eine akute Stresssituation und erhöht dadurch die Aufmerksamkeit auf das Geburtsereignis.

Geburtsschmerz oder Geburtsfreude - auch eine Frage des Mindset

Sinn des Geburtsschmerzes:

  • warnt und leitet die Schwangere
  • fördert die Aufmerksamkeit und Konzentration
  • sorgt für die Ausschüttung wichtiger geburtsförderlicher und gleichzeitig schmerzlindernder Hormone

Geburtsschmerz: Was passiert im Körper der Frau?

Durch die stoßweise Ausschüttung von Stresshormonen werden im Körper der Frau Botenstoffe, wie Oxytocin, freigesetzt, die wiederum dafür sorgen, dass die Wehen zunehmen, gleichzeitig aber auch die Schmerztoleranz erhöht wird.

Oxytocin löst gemeinsam mit anderen Hormonen (z. B. Prostaglandine, Östrogene) Geburtswehen aus und sorgt für die Ausschüttung von Endorphinen.

Endorphine sind körpereigene Schmerzmittel. Neben der Schmerzlinderung bewirken sie auch Gefühle von großer Zufriedenheit über die eigene Leistung, Ekstase und Euphorie, mit denen die Mutter nach der Geburt ihrem Neugeborenen gegenübertritt.

Nach der Geburt des Kindes ist Oxytocin wichtig für die Muttermilchbildung und fördert die überlebenswichtige Bindung  zwischen Mutter und Kind.

Eine künstliche Verabreichung von Oxytocin, wie sie in der Geburtshilfe typischerweise zur Einleitung oder bei Verzögerung der Geburt zur Anwendung kommt, kann die körpereigene Oxytocin-Bildung nach der Geburt beeinflussen und negativ auf den Stillerfolg auswirken.

Wichtig zu wissen: Ängste können Schmerzen verstärken

Starke Angstgefühle können den Geburtsvorgang verzögern und Schmerzen verstärken. Bei starker Angst werden mehr Stresshormone freigesetzt, die dann paradoxerweise zu einer geringeren Endorphin-Produktion führen.


Infografik: Geburtsschmerz neu denken – Oxytocin spielt eine Schlüsselrolle

Geburtsschmerz: Schlüsselrolle von Oxytocin für Mutter und Kind
Geburtsschmerz: Schlüsselrolle von Oxytocin für Mutter und Kind

Wie kann eine „natürliche Geburt“ gelingen?

Wie stark die Schmerzen bei der Geburt wahrgenommen werden, hängt von vielen körperlichen, aber auch psychischen Faktoren ab. Wird der Geburtsschmerz als sinnvoll und produktiv sowie die Geburtsumgebung als sicher und unterstützend betrachtet, ist die Geburt automatisch weniger bedrohlich, was letztlich auch die Schmerzerfahrung positiv beeinflussen kann.

Wichtig ist, dass Frauen bereits in der Vorbereitung auf die Entbindung eine realistische Vorstellung von den zu erwartenden Schmerzen bekommen.

Natürliche Hilfsmittel zur Schmerzlinderung

Neben den gängigen pharmakologischen Methoden zur Schmerzlinderung, wie der PDA (Periduralanästhesie), Opioiden oder Lachgas, gibt es auch natürlichere Wege, die bei der Schmerzbewältigung nachweislich hilfreich sind, z.B.:

  • Atem- und Entspannungstechniken
  • Berührung und Massage
  • Akupunktur
  • Entspannungsbad

Die Hebamme als sichere Begleiterin

Die wohl beste, nicht-medikamentöse Methode, Schmerzen bei der Geburt zu lindern, ist die intensive Begleitung und Betreuung der Gebärenden, idealerweise durch eine Hebamme oder einen Entbindungspfleger bzw. Geburtshelfer. Studien zeigen, dass sich dadurch nicht nur der Einsatz von Schmerzmitteln verringert, sondern auch die Geburtsdauer verkürzt. Auch die Zahl von geburtshilflichen Eingriffen mit Instrumenten wie einer Saugglocke nimmt ab.

Eine realistische Vorstellung vom Schmerz vermitteln

Der Geburtsschmerz ist ein natürliches Phänomen, das für alle Frauen aufgrund seiner starken Intensität eine Herausforderung darstellt. Dennoch: Manche bewältigen ihn leichter, andere leiden stark darunter. Im modernen Schmerzverständnis sollte es darum gehen, diese Unterschiede im Schmerzerleben zu hinterfragen und zu verstehen.

Mittlerweile sind sich Forscher:innen einig, dass einer der Hauptfaktoren für die Schmerzerfahrung während der Geburt die Bedeutung der Schmerzen ist, die die Gebärende ihnen zuschreibt. Was heißt das?

Gelingt es einer Frau, den Geburtsschmerz als sinnvoll und produktiv zu bewerten und ist ihre Geburtsumgebung sicher und unterstützend, stellt die Geburt sehr wohl ein lebensveränderndes, jedoch ein viel weniger bedrohliches Ereignis dar. Das wirkt sich auf das Erleben der Schmerzen aus.

Wichtig ist, dass Frauen in der Vorbereitung auf die Geburt eine realistische Vorstellung der Schmerzen erlangen, da sonst die Intensität des Schmerzes unterschätzt wird und Frauen von der Schmerzerfahrung regelrecht überrollt werden. In der Folge greifen sie bei der Geburt öfter zu pharmakologischen Methoden.


Unterstützung bei Wochenbettdepressionen

Etwa fünfzehn Prozent der Mütter und fünf Prozent der Väter leiden in der Zeit rund um die Geburt an Depressionen und Angststörungen. Viele Betroffene haben einen langen Leidensweg hinter sich, bis ihre Situation diagnostiziert wird.

Peripartale Depressionen bleiben oft unentdeckt, da die Betroffenen Scham empfinden und nicht über ihre Situation sprechen.

Um Betroffenen frühzeitig Unterstützung zukommen zu lassen, wurde eine Studie namens UPlusE ins Leben gerufen, die von der BKK ProVita im Rahmen des Innovationsfonds gefördert wird. UPlusE ergänzt die U-Untersuchungen für Kinder um eine zusätzliche Komponente, die das Wohlbefinden der Eltern betrifft. Durch eine umfassende Untersuchung werden Stimmungsschwankungen bei werdenden und frischgebackenen Eltern aufgedeckt und sofort behandelt.



Lesetipp:  Frühe Bindungserfahrungen bilden das Fundament für unsere Persönlichkeit sowie Gesundheit. Mehr dazu in unserem Interview mit dem Psychiater und Bindungsforscher Prof. Karl-Heinz Brisch: So kann man Resilienz gegen Stress schon bei Babys fördern

Dr. Michaela Ott

Michaela Ott ist promovierte Psychologin. Sie interessiert sich dafür, was Menschen jenseits von bewusster Ernährung und Sport gesund hält oder, im Fachjargon, „resilient“ macht. Seit vielen Jahren befasst sie sich mit der Bedeutung psychischen Erlebens für die körperliche Gesundheit und der Frage nach den Wurzeln von (Stress-)Resilienz. Diese lassen sich bis in den Mutterleib zurückverfolgen. Für Michaela ist klar: Gesundheit ist eine verantwortungsvolle Lebensaufgabe, die den Schutz unseres Planeten genauso einschließt wie die Fürsorge um die eigene Gesundheit.