SOS-Tipps für Familien im Ausnahmezustand

Explodierende Stimmung, keine Lust auf irgendwas oder endloses Schweigen – es kann Erziehende ganz schön ratlos machen, wenn sich Mädchen und Jungs in der Pubertät verändern. Wer jedoch versteht, was dahintersteckt, kann anders auf sein Kind reagieren – und so vielleicht besonders wertvolle Momente erleben.

Wir haben recherchiert, was in der Entwicklungsphase zu Wachstumsschüben und Gefühlschaos führt, und den Diplom-Psychologen Kurt Dorn, Leiter der Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) in Weilheim-Schongau, nach Tipps für typische Ausnahmezustände im Alltag mit Heranwachsenden befragt.

Stell dir vor, die Wohnung wird komplett saniert, von oben bis unten, alles gleichzeitig, während alle darin wohnen … So ähnlich geht es einem Kind in der Pubertät: Ein riesiger Umbau im Gehirn führt dazu, dass manches vorübergehend „out of order“ ist. Hinter der Stirn von Mädchen und Jungs in der Pubertät müsste man es eigentlich rattern hören: Da werden Synapsen (Kontakte zur Signalübertragung) gekappt und neue aufgebaut. Der präfrontale Cortex, die Hirnregion für klare Denkprozesse, beginnt sich gerade erst zu entwickeln, was sich z. B. durch teils gefährlich falsche Selbsteinschätzung, geringe Entscheidungsfähigkeit und fehlende Impulskontrolle zeigt.

Wie lange dauert die Pubertät? Wann ist die Pubertät am schlimmsten?

Pubertät ist etwas sehr Individuelles. Bei Mädchen kann die Vorpubertät schon mit acht Jahren beginnen, die Pubertät bei Jungen etwa ab zehn Jahren. Auch die Dauer der Pubertät und wie sie sich zeigt, ist individuell sehr unterschiedlich. Als Hochphase gilt die Zeit zwischen 13 und 17 bei den meisten Mädchen und Jungs. Ganz abgeschlossen sind die letzten körperlichen Veränderungen oft erst mit Anfang 20.

Während der Pubertät werden die Mädchen und Jungs von ihren jeweiligen Geschlechtshormonen regelrecht geflutet. Dadurch verändern sich ihre Gefühlswelt, ihre Wahrnehmung, ihre Stimmung, ihr Körper: Geschlechtsreife, Schamhaare, Brustwachstum, Stimmbruch, erster Samenerguss, Bartwuchs, Wachstumsschub … Oft genug kennen sich die Kids selbst nicht (aus). Das Auf und Ab der Geschlechtshormone und anderer Botenstoffe sorgt für allerlei Gefühlschaos.

Kein Rankommen: Eltern von „Pubertieren“ haben’s oft nicht leicht – die jungen Menschen selber aber auch nicht!

Östrogene machen stark

Bei Mädchen aktiviert das steigende Geschlechtshormon Progesteron die Amygdala, das Gefühlszentrum im Gehirn. Emotionen aller Art verstärken sich. Gleichzeitig kurbelt das weibliche Geschlechtshormon Östrogen den Hippocampus an: Das macht Mädchen in der Pubertät oft intellektuell und kommunikativ sehr stark. Bei Jungs in der Pubertät sorgt das steigende Geschlechtshormon Testosteron für mehr Risikobereitschaft. Zudem brauchen Jugendliche in der Pubertät oft stärkere Reize und Kicks, um Begeisterung zu empfinden. Denn auch das Belohnungssystem wird neu justiert und schüttet mal zu früh, mal zu spät das Glückshormon Dopamin aus.

Das Auf und Ab der Geschlechtshormone und anderer Botenstoffe sorgt für allerlei Gefühlschaos.

„Dieser Entwicklungsprozess ist dennoch etwas sehr Wertvolles“, betont Kurt Dorn, Leiter einer Familienberatung. „Doch leider wird beim Thema Pubertät oft nur die Spitze des Eisbergs – also der ‚eskalierende‘ Jugendliche – beleuchtet. Was darunter stattfindet, wird oft nicht gesehen.“ Umso wichtiger, dass sich Erziehende in den Ausnahmezustand einfühlen und eher Fels in der Brandung als Kritiker:innen sind. Denn: „Eine sichere Bindung ist ein Grundbedürfnis, so wichtig wie Essen, Trinken und Atmen“, betont Kurt Dorn. Gleichzeitig geht es auch ums Loslassen, damit Kinder sich abnabeln und selbstständig werden können.

Tipps für den Ausnahmezustand

Vor dem Hintergrund dieser enormen Entwicklungsaufgabe versteht man so manchen Ausraster seines „Pubertiers“ etwas besser. Wir haben für typische Alltagssituationen praktische Tipps vom Diplom-Psychologen Kurt Dorn eingeholt.

1. Stimmungsschwankungen: Mein Kind, die tickende Bombe

Erst nette Plauderei, dann eine unvorsichtige Bemerkung. Bäm! Tochter Nele explodiert, rennt raus, knallt die Türe und sperrt sich stundenlang ein.

Woher kommt die abrupte Launenhaftigkeit?

Ursachen sind die hormonellen Veränderungen und der Umbau im Gehirn. Bei Mädchen aktiviert das Hormon Progesteron das Gefühlszentrum: Emotionen verstärken sich. Der rationale „Gegenspieler“ im Gehirn und die Impulskontrolle funktionieren noch nicht so gut. Das kann die Tochter zum reizbaren Vulkan machen.

Was rät der Experte?

Für alle Situationen, in denen Gefühle hochkochen, gilt: erst mal wieder alle runterkommen. Akzeptiere den Rückzug. Auch Türenknallen und ein Schimpfwort sollte man mal aushalten können. Hat sich der Rauch verzogen, das Geschehene noch mal in Ruhe ansprechen (ohne Vorwürfe) und klarmachen, was inakzeptabel ist. Rote Linie: Handgreiflichkeiten oder wenn es für jemanden gefährlich wird. Oft verpufft der Ärger aber so schnell, wie er gekommen ist – nicht alles muss ausdiskutiert werden. Vielleicht könnt ihr sogar zusammen darüber lachen.

Tipp: Zuhören und Verstehen öffnen Türen.

2. Neuer Schlafrhythmus: Mein Kind, das Murmeltier

Eigentlich war ein Ausflug geplant. Jetzt ist es nach 12 Uhr und Sohn Leon liegt immer noch in den Federn. „Ist doch Wochenende“, brummt er ins Kissen.

Warum schlafen Pubertiere so viel?

Die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin verschiebt sich in der Pubertät um ein bis zwei Stunden nach hinten: Jugendliche sind zur Bettgehzeit hellwach und morgens noch im Schlafmodus. Hinzu kommen Gewohnheiten, die die Müdigkeit noch mehr hinausschieben: das blaue Licht von Handy und Monitoren, abendlicher Sport, Kaffee, Cola, Energydrinks oder Nikotin.

Was rät der Experte?

Erkläre deinem Kind, dass es dir fehlt, wenn es beim Ausflug nicht dabei ist. Oft sind sich Jugendliche dessen gar nicht bewusst. Finde für Schulzeiten und gelegentlich für solche Anlässe Kompromisse: Vielleicht ist deine Tochter oder dein Sohn ja abends noch fit für eine Lerneinheit und darf dafür mittags schon etwas daddeln. Noch ein Tipp: Ausschlaftage und bildschirmfreie Zeiten für alle vereinbaren!

3. Antriebslosigkeit: Mein Kind, das Null-Bock-Wesen

Das Training hat Martha ausfallen lassen, die Praktikumssuche geht nicht voran, und ihr Spülmaschinendienst klappt auch nicht. Doch Martha zuckt nur die Schultern.

Woher kommt die extreme Lustlosigkeit?

Dein Kind ist sich in dieser Zeit manchmal selbst fremd: Der Totalumbau im Gehirn, im Körper, in der Gefühlswelt ist auch für die Jugendlichen ein Ausnahmezustand. Der kostet Energie, die an anderer Stelle schlichtweg fehlt.

Was rät der Experte?

Ich vergleiche die Rolle der Eltern gerne mit einem Leuchtturm, der in regelmäßiger Taktung ein Orientierungssignal gibt und durch den Sturm führt. Begleite dein Kind wohlwollend, stärkend, verständnisvoll durch diese Phase – jetzt geht es um Beziehung, nicht mehr um Erziehung. Manchmal brauchen die Kids einfach Motivation von außen und Menschen, die an sie glauben. Und: Eltern und andere Erziehende sollten halbwegs Ahnung davon haben, womit ihr Kind beschäftigt ist. Fehlt dauerhaft die Lust für nahezu alles, suche das Vier-Augen-Gespräch. Teile ihm deine Sorge mit und nimm professionelle Hilfe in Anspruch, wenn du nicht weiterkommst.

4. Das große Schweigen: Mein Kind im fernen Kosmos

Früher hat Alex beim Essen alles erzählt – neuerdings herrscht Schweigen. Antworten gibt es oft in Zwei-Wort-Sätzen: „Passt schon … Geht so … Keine Ahnung …“

Warum verstummen manche Jugendliche regelrecht?

Bei Jungs sind die neuronalen Kommunikationsfelder gedämpft. Sie brauchen stärkere Reize, um Begeisterung zu empfinden, weil das Belohnungssystem verrückt spielt. Entsprechend leidenschaftslos wirken die wortkargen Kids. Übrigens: Mädchen macht das ansteigende Hormon Östrogen oft kommunikativ sehr stark.

Was rät der Experte?

Kein Kind sollte reden müssen, wenn es nicht will. Es befindet sich in der Ablösung und strampelt sich frei. Erziehende müssen aushalten, dass sie nur noch manchmal Ansprechpartner:innen sind. Solange weiterhin fröhliches Geplapper zu hören ist, wenn Freund:innen am Handy sind und sich sonst keine gefährlichen Auffälligkeiten zeigen: Lass es laufen! Bleibe dennoch präsent – im Leuchtturm-Takt – und unaufdringlich interessiert. Manchmal kommt es beim gemeinsamen Filmabend oder Essen dann wieder zu Gesprächen.

Musik statt Mathe: Gerade, wenn es in der Schule schwieriger wird, verlieren Teenager oft die Lust am Lernen – anderes ist ihnen jetzt wichtiger.

5. Grenzen testen: Mein Kind, der Provokateur

24 Uhr war ausgemacht, doch Elsa kommt erst kurz vor halb zwei nach Hause. Handy-Akku leer, Alkoholfahne, megakurzes Bandeau-Top – und dann kommt auch noch eine illegale Graffiti-Aktion heraus. Ihr Kommentar: „Chill!“

Warum suchen manche Jugendliche die Konfrontation?

Die Hirnregion „Gefahreneinschätzung und Entscheidungsfähigkeit“ arbeitet in dieser Entwicklungsphase noch nicht vollständig. Dafür läuft das Emotionszentrum auf Hochtouren – und der Wunsch nach starken Kicks. Eine trotzige „Ich-bin-kein-Baby-mehr“-Haltung gehört zur notwendigen Ablösung. Und so führt alles zusammen manchmal zu demonstrativen oder radikalen Freiheitsausbrüchen.

Was rät der Experte?

Jugendliche wollen gar nicht immer provozieren. Wahrscheinlich hatte Elsa einfach nur Spaß und dabei die Zeit vergessen. Dennoch ist hier eine rote Linie sehr wichtig: Wann wird das Verhalten oder die Fehleinschätzung der Jugendlichen wirklich gefährlich? Es muss klare Grenzen und Abmachungen geben, die nicht diskutabel sind: Nachricht schicken bei Verspätung etc. Manche Jugendliche sind sogar froh (werden das aber selten zugeben), wenn Eltern manchmal von außen regulieren, was sie selbst – auch unter dem Druck von Gleichaltrigen – nicht schaffen.

Grenzen werden möglicherweise trotzdem getestet. Doch Eltern sollten sich nicht auf Machtkämpfe einlassen und nicht in die Vorwurfsfalle tappen. Schau dahinter: Es gibt immer einen „guten Grund“. Oft fühlen sich Jugendliche nicht verstanden, die kalte Schulter ist eine Art Sicherheitsprogramm. Frag (in Ruhe) nach und erkläre deine Sorgen: „Es geht nicht um Kontrolle. Aber ich will, dass dir nichts passiert.“

Kennst du die Nummer gegen Kummer? Das ist das „Elterntelefon“: 0800 111 0 550.
Rund 800 ausgebildete Berater:innen helfen Eltern und anderen Erziehenden hier mit Gesprächs-, Beratungs- und Informationsangeboten weiter, kostenlos!
Das Telefon ist montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 19 Uhr besetzt.
Mehr Infos? www.nummergegenkummer.de


Dieser Beitrag erschien in einer Kurzfassung in unserem MAGAZIN fürs LEBEN, Ausgabe 3/2023. Unser Mitgliedermagazin erscheint dreimal im Jahr und bietet dir viele spannende Themen. Jetzt die aktuelle Ausgabe online lesen!

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