Interview mit Prof. Karl Heinz Brisch über frühkindliche Bindung – und warum diese für berufliche Teams wichtig ist

Bindung beginnt schon im Mutterleib – und wirkt sich bis ans Lebensende aus. Denn frühe Bindungserfahrungen bilden das Fundament unserer Persönlichkeit und prägen daher nicht nur unser Privatleben, sondern auch unsere berufliche Karriere. Mehr dazu in unserem Interview mit dem Psychiater und Bindungsforscher Prof. Karl-Heinz Brisch.

Herr Prof. Brisch, was bedeutet Bindung?

Wir alle haben Bindungsbeziehungen und das schon seit unserer frühesten Kindheit. Eine solch sichere Bindung  zu mindestens einer Bezugsperson – das müssen nicht unbedingt die Eltern sein – ist für ein Baby überlebenswichtig. Wenn das gut gelingt, entwickelt das Baby im Laufe des ersten Lebensjahres sehr spezifische Bindungen zu ausgewählten Bezugspersonen. Diese können – im Idealfall – die Signale des Babys richtig interpretieren, angemessen reagieren und vermitteln dem Baby ein Gefühl von Sicherheit, sodass es die Welt erkunden kann. Das ist eine zentrale Weichenstellung für das spätere Leben und die Gesundheit.

Warum ist Bindung für das spätere Leben so wichtig?

Eine sichere Bindung ist wie ein breites, solides Fundament der Persönlichkeit. Wenn Sie ein Haus bauen, brauchen Sie ein gutes Fundament. Das ist belastbar. Wenn dann ein Hurrikan kommt, haben solche Häuser einen kleinen Riss im Putz, aber keinen dramatischen Schaden. Bei einer unsicheren Bindung ist das Fundament schmaler und weicher, da entstehen größere Risse. Bei einer desorganisierten Bindung haben Sie Löcher im Fundament. Bei tatsächlichen Bindungsstörungen steht das Haus der Persönlichkeit in einem Sumpf. Ein solches Haus ist kaum belastbar, bei Stresserfahrungen wird es relativ bald – um im Bild zu bleiben – in Schieflage geraten oder immer tiefer in den Sumpf absinken.

Was zeichnet Menschen mit einer sicheren Bindung genau aus?

Menschen, die sicher gebunden sind, haben große Vorteile: Sie können Stress besser aushalten, und auch schneller bewältigen und sich Hilfe holen. Sie sind empathiefähiger, ihre Gedächtnisleistung, Flexibilität und Kreativität sind besser. Das sind die Leute, die Sie auch im Team haben wollen. Das geht auch bei Menschen, die unsicher gebunden sind,  aber nicht so gut. Wenn sie zwei sicher gebundene Menschen zusammenbringen, dann geht das gut. Die sind flott unterwegs. Vorausgesetzt, der „Erkundungsmodus“ ist aktiv.

Was kann den „Erkundungsmodus“, also die Produktivität im Team, stören?

Schauen wir zurück in die Kindheit: Wenn Kinder keine Angst haben, ist automatisch die Erkundung aktiv. Wenn sie aber Angst haben, ist das Bindungsbedürfnis aktiv – und die Erkundung eingestellt. Das sehen wir auch in der Schule. Ein Kind, das Angst hat vor einem bestimmten Lehrer oder Fach, wird keine guten Leistungen erzielen. Wenn die Lehrerin oder die Eltern dem Kind Mut machen und entsprechend emotional auf das Kind eingehen, wird das Kind auch bessere Leistungen erzielen. Bindung und Erkundung sitzen sozusagen auf einer Wippe. Das gilt auch für Erwachsene. Wenn Menschen Angst haben, dann können Sie nicht mehr gut lernen, zuhören, aufpassen, Aufgaben erledigen. Wann immer Ihr Chef von Ihnen optimale Erkundung, Neugier, neue Ideen haben möchte, muss er dafür sorgen, dass Sie sich im Betrieb sicher fühlen. Wenn ein Vorstand oder eine andere Führungsperson Ihnen Angst macht, ist das kontraproduktiv. Dann werden Sie zwar noch irgendwie funktionieren, aber Sie werden nicht optimal arbeiten können.

Wie beeinflusst frühe Bindung die spätere Stresstoleranz?

Babys haben noch kaum Fähigkeiten, Stress zu regulieren. Schon bei wenig Stress weinen sie. Babys können viel weinen und das ist überlebenswichtig: sonst würden die Eltern nicht merken, dass sie Hunger oder Schmerzen haben. Wie sich das Stresstoleranzfenster entwickelt, wird durch das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind in den frühen Jahren geprägt. Feinfühligkeit der Bezugspersonen ist dabei ganz wichtig. Ziel sollte es sein, dass das Stresstoleranzfenster immer größer wird. Manche Menschen haben ein sehr großes Stresstoleranzfenster. Man nennt das auch Resilienz.

Inwiefern ist Resilienz für berufliche Teams relevant?

Wenn Sie wissen, wer im Team eine hohe Stresstoleranz oder Resilienz hat und wer nicht, dann wissen Sie, wem Sie um 5 vor 5 noch eine Aufgabe geben können und wem besser nicht. Hans flippt aus – aber Maria hat um 5 vor 5 noch so viel Stressresistenz, die wird sagen: Wichtige Aufgabe, das ist spannend und interessant. Das mache ich gleich morgen früh. Sie wird nicht rumschreien. Wie die Resilienzen im Team sind, das ist sehr unterschiedlich. Bei Partnern weiß man in der Regel, wo seine „Triggerpoints“ liegen. Das bedeutet, wir wissen, wo der andere nicht so stresstolerant ist und was ihn schneller unter Druck setzt oder sogar lahmlegt. Wenn wir nett sind, dann berücksichtigen wir das und muten dem anderen nicht gerade an diesem Punkt noch besonders viel zu, sondern entlasten an einer solchen Aufgabe eher. Das ist auch in Teams hilfreich zu wissen und zu verstehen.

Wie funktionieren überhaupt Teams?

Das ist eine gute und spannende Frage. Leider funktioniert die Zusammenarbeit im Unternehmen nicht immer reibungslos. Wir arbeiten alle in Gruppen und Teams – von Kindesbeinen an. Da gibt’s eine Kindergartengruppe, eine Schulgruppe, eine Familiengruppe, usw. Wie werden Menschen jetzt teamfähig? Wichtig zu wissen: Auch die Geschwisterkinder kommen mit unterschiedlichen Bindungsmustern ins Team mit hinein: Was wir als Geschwister erlebt haben, taucht im Team wieder auf. Das ist eine Herausforderung!

Wie merkt man als Vorgesetzter, wer welche Geschwisterrolle ins Team mit einbringt?

Das könnten Sie im Vorstellungsgespräch schon erfragen. Aber auch die Körpersprache in Meetings kann ein spannender Hinweis sein: Wer sitzt auf dem Tisch und zeigt so Dominanz? Wer ist neu im Team und steht am Rand? Wer ist das „Adoptivkind“, das aushelfen soll? Oder das „Pflegekind“, das gestresst aus einem schwierigen Team in ein neues „versetzt“ wird und dort möglichst freundlich aufgenommen und „gepflegt“ werden soll, damit es sich wieder etwas zutraut und seine Potentiale entfalten kann. Das ist fast zu wie zu Hause. Normalerweise bräuchte jede gute Firma für ihre Teams Supervision. Ich habe vor Jahren zum ersten Mal angefangen, Supervision in unser Forschungsteam reinzubringen, das hat uns sehr geholfen, Spannungen zu verstehen und zu lösen und letztendlich wieder kreativer und erfolgreicher miteinander zu arbeiten. Wenn das richtig gut geht, können z. B. Geschwisterdynamiken im Team ein Riesengewinn sein. Wie in einer Familie: Wenn man den anderen in seinen Stärken und Schwächen versteht und annehmen kann, kann man sich gegenseitig helfen und unterstützen. Dann werden „Geschwister“ in einem Team ein großes Glück. Und die vielleicht ungewollten „Halbgeschwister“, die vom Chef schnell mal eben ins Team geschickt werden, werden plötzlich zu „Bonusgeschwistern“.

Also Sie sehen, nicht nur frühe Bindungserfahrungen mit den Eltern, sondern auch Geschwisterbeziehungen und -rollen haben im späteren Leben eine große Relevanz, z. B. in der Teamzusammenarbeit. Eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind ist die beste Grundlage für eine gesunde körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes sowie eine gute Resilienz gegen Stress. Wir sollten daher Eltern und Kinder in diesem frühen Lebensabschnitt so gut wie möglich unterstützen, damit dieser wichtige Entwicklungsschritt bestmöglich gelingen kann.

Vielen Dank, Herr Prof. Brisch, für das spannende Gespräch!


Der Kinderpsychiater Karl-Heinz Brisch war 20 Jahre am Haunerschen Kinderspital in München tätig. Sein Spezialgebiet ist die Kinderpsychosomatik. Er hat verschiedene Präventionsprogramme entwickelt, darunter SAFE® – ein Trainingsprogramm zur Förderung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind.