Oder: Warum wir Kranke als Experten in eigener Sache behandeln sollten
In der Medizin und in Teilen der Medien wird unter „Placebo“ die Täuschung des Patienten verstanden. Denn er bekommt etwas, das keinen Wirkstoff enthält – das vermeintlich Heilende wird also vorenthalten. Fakt ist jedoch, dass Behandlungen mit Placebos ebenso wie Scheinoperationen in der Chirurgie zu realen und messbaren physiologischen Veränderungen führen können. Etwas, das keinen Wirkstoff hat, kann also dennoch wirken. Die moderne Placeboforschung geht dieser Sache auf den Grund, wie uns Prof. Dr. Hartmut Schröder erläuterte. Nachfolgend hat er seinen Vortrag für unseren Blog exklusiv zusammengefasst.
Traditionelles Placebo vs. wirksames Placebo
Die moderne Placeboforschung rückt Placebos in ein neues Licht und kann erklären, dass damit verbundene Effekte keineswegs durch Täuschung entstehen, sondern in einem aktiven Prozess durch das Bewusstsein des Patienten erzeugt werden. Dieser entscheidet aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen, aktuellen Erwartungen und inneren Einstellungen sowie im Kontext der therapeutischen Beziehung zu seinem Arzt, welche Bedeutung er einem Reiz gibt. Und entscheidet somit (bewusst oder unbewusst) darüber, ob der Reiz heilsam als „Placebo“ oder unheilvoll als „Nocebo“ (der „böse Bruder“ des Placebos) bei ihm ankommt. Die amerikanische Sozialpsychologin Ellen Langer unterscheidet daher auch einerseits zwischen einem traditionellen Placebo und andererseits einem wirksamen Placebo. Im Falle des traditionellen Placebos wird in der Tat der Geist des Patienten getäuscht. Im Falle des wirksamen Placebos wird der Geist des Patienten bewusst herangezogen. Das Phänomen „Placebo-Effekt“ kann damit als Ausdruck der Selbstheilung und der Selbstwirksamkeit des Patienten verstanden werden. An Stelle des Wortes Placebo sollte daher besser das Wort „Valebo“ verwendet werden, das einen Placeboeffekt meint, der durch den Patienten selbst erzeugt wird.
Neues Wort: Valebo
Das neue Wort Valebo kommt – wie die Wörter Placebo und Nocebo – aus dem Lateinischen. Vom Patienten aus gedacht, kann es mehrere Bedeutungen annehmen, die etwas zum Ausdruck bringen, das mit seiner inneren Haltung und Einstellung zu tun hat und für den Prozess der Heilung wichtig ist:
- Ich werde gelten
- Ich werde Einfluss haben
- Ich werde gesund sein
- Ich werde mich wohlfühlen
Auf den Nenner gebracht, bedeutet Valebo, dass der Patient Verantwortung für sich selbst übernimmt und Experte in Sachen seiner eigenen Gesundheit und Heilung wird. Er ist überzeugt, dass er selber dazu beitragen kann, wie es ihm geht. Er kann unterscheiden, was er verändern kann und in welchen Bereichen er Hilfe und Unterstützung suchen sollte. Er weiß vor allem auch, was für ihn gut ist und was ihm nicht gut tut. Nach außen und innen kommuniziert er:
- Meine Gesundheit und Heilung nehme ich selber in die Hand, mache sie zur Chefsache.
- Unterstützen und beraten lasse ich mich dabei von Ärzten und Therapeuten.
- Ich lebe, fühle und denke so, dass Krankheit sich verabschieden kann, keinen Platz mehr in meinem Körper, meiner Seele und meiner Psyche hat.
Valebo ist damit der passende Ausdruck für ein neues Narrativ in der Medizin. In diesem Narrativ sind kranke Menschen nicht nur Patienten, sondern Experten in eigener Sache:
- für ihre Gefühle und Gedanken;
- für ihre Beziehungen und ihr Verhalten;
- für ihre Gesundheit, ihr Kranksein, ihren Lebensstil und ihre Heilung.
Prof. Dr. Gerd Nagel , Gründer der Stiftung Patientenkompetenz, leitet aus seinen langjährigen Erfahrungen als Onkologe ab, dass das aktive Mitwirken des Patienten, einen eigenen Beitrag zur Krankheitsbewältigung zu leisten, mehrere positive Effekte hat:
- Es verbessert die Heilungschancen,
- es verbessert die Verträglichkeit der Therapie,
- es verbessert die Lebensqualität.
Selbstkritisch räumt er gleichzeitig ein, dass es für die Gültigkeit dieser Beobachtungen noch keine Studie in Europa gibt, weil „wir Mediziner uns nie für die Gesundheit oder für den Patienten interessiert haben, sondern immer nur für die Krankheit“.
„Ohne Zuwendung ist alles nichts“
Ärzte und Therapeuten werden freilich auch in Zukunft trotz zunehmender Patientenkompetenz keineswegs überflüssig. Sie können sich vielmehr auf ihre Aufgaben und Möglichkeiten als medizinische Experten fokussieren und den selbstwirksamen Patienten in seinem Prozess der Selbstheilung kompetent begleiten. Wie andere Experten, sind sie nicht nur Spezialisten für die Anwendung von Techniken und Methoden, sondern sie können in der Rolle des Navigators den Patienten beraten und unterstützen. Dabei kommt – neben dem fachlichen Expertentum – der Empathie- und Kommunikationsfähigkeit des Arztes eine Schlüsselrolle zu. Giovanni Maio , Arzt und Medizinethiker, hat dies sehr überzeugend beschrieben: „In der Behandlung von kranken Menschen kommt es nicht allein auf die Technik, auf die Applikation einer bestimmten Methode an, sondern vor allem darauf, in welchem Beziehungsgeschehen Therapien erfolgen. Diese Beziehung hat weniger etwas mit einer bestimmten Handlung zu tun als mit der ihr zugrunde liegenden Haltung.“ Vor diesem Hintergrund fasst Maio zusammen: „Ohne Zuwendung ist alles nichts.“
Der neue Begriff Valebo steht für einen Paradigmenwechsel in Richtung einer Stärkung der Rolle des Patienten. Das alte Narrativ vom kranken Menschen als Patienten hat ausgedient und sollte abgelöst werden von dem neuen Narrativ des kranken Menschen als Protagonisten der eigenen Heilung. In diesem Narrativ sind kranke Menschen Experten für ihre Gesundheit und ihren Lebensstil – Ärzte und Therapeuten begleiten sie dabei mit ihrem medizinischen Expertentum.
Ellen Langer: Mindfulness: Das Prinzip Achtsamkeit. Die Anti-Burnout-Strategie. München 2015
Gerd Nagel in einem Interview im Bayerischer Rundfunkt, 2011.
Giovanni Maio: Ohne Zuwendung ist alles nichts – Für eine Medizin der Zwischenmenschlichkeit. In: Deichert U., Höppner W., Steller J. (eds) Traumjob oder Albtraum – Chefarzt m/w. Heidelberg 2016