Teil 7 unserer Serie zur Epigenetik | So beeinflusst die Pandemie unsere psychische Gesundheit
Wie schützen wir uns in der Covid-19-Pandemie vor Depressionen, Ängsten, Überforderung, Sucht und Gewalt? Warum ist die Krise auch eine Chance?
Seit Monaten ist bei uns jetzt schon Corona-Krise. Nichts scheint mehr normal. Die einen schuften rund um die Uhr, sind gefordert wie selten. Die anderen sitzen zu Hause und langweilen sich. Manche drohen zu vereinsamen. Sie werden ängstlich oder trübsinnig. Vielleicht kämpfen sie sogar mit längst überwunden geglaubten Suchtproblemen. Wieder andere wissen gar nicht, wie sie Home-Office und Kinderbetreuung unter einen Hut bekommen sollen. Und die Kinder? Die vermissen ihre Freunde, leiden unter geschlossenen Freizeiteinrichtungen.
In der Corona-Krise sind viele von uns einem ungewohnt hohen Maß an psychischer Belastung ausgesetzt. Beruflicher Stress bei Pflegekräften, Medizinerinnen und Medizinern und Verkaufspersonal auf der einen Seite. Die Begrenzung körperlicher Kontakte bis hin zur wochenlangen häuslichen Isolation auf der anderen. Dazu die Angst vor der Zukunft. Für einige könnte dieser Stress zur Überbelastung werden, zum „toxischen Dauerstress“, der die Seele vergiftet. Dann drohen psychische Störungen, und das Risiko für manche chronische Krankheit steigt. Andere könnten von der Situation aber auch profitieren und an Widerstandskraft gewinnen. Eine unverhoffte Auszeit kann sogar zum Stress verringernden sprichwörtlichen Ausbruch aus dem Hamsterrad des Alltags werden.
Massenhysterie sieht anders aus
Psychologen sind jedenfalls erstaunt, wie vernünftig die meisten Menschen bleiben. Sie haben offenbar begriffen, dass Panik immer schon ein schlechter Ratgeber war und es jetzt erst recht ist. Auch eine Massenhysterie scheint nicht auszubrechen – zumindest, wenn man das Hamstern von Toilettenpapier oder das Witzemachen darüber nicht für eine solche hält. Zwar handele es sich bei der Corona-Krise um ein Massenphänomen, aber die wenigsten Menschen reagieren auf das neue Virus übertrieben.
Das Wichtigste scheint derzeit zu sein, jene aufzuspüren, die besonders unter der Situation leiden oder besonders gefährdet sind, an der Krise zu zerbrechen. Es gilt, diese Menschen zu unterstützen und auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Nicht alle Menschen sind nämlich gleichermaßen anfällig für dauerhaften Stress. Und nicht für alle Menschen ist die Lage wirklich bedrohlich. So sieht es auch der Psychologe Gunther Meinlschmidt, Professor an der International Psychoanalytic University Berlin. Er warnt davor, dass im Corona-Shutdown das Risiko für eine Menge psychischer Krankheiten steigt, befürchtet aber auch eine übertriebene Dramatisierung der Lage.
Krankhafte Ängste und depressive Störungen würden wahrscheinlich zunehmen. Auch das Risiko für Zwangsstörungen steige vermutlich. Darunter versteht man, wenn jemand zwanghafte Ideen oder Gedanken hat oder zu zwanghaften Handlungen neigt, etwa zu übermäßiger Kontrolle oder Reinlichkeit. Eine weitere Gefahr sind somatische Belastungsstörungen. Diese können sich unter anderem als Bauch-, Rücken- oder Kopfschmerzen sowie Schwindel, Magen-Darm-Probleme oder Müdigkeit äußern und sind verbunden mit einer übermäßigen psychischen Belastung durch die Beschwerden. Zu guter Letzt weist Meinlschmidt auf die Gefahr zunehmender Suchterkrankungen hin. Dazu zählt er stoffgebundene Süchte wie Alkoholsucht oder den unangemessenen Konsum nicht verschriebener Medikamente, aber auch Verhaltenssüchte wie Spielsucht.
Manche Menschen freuen sich über eine Auszeit
Natürlich ist diese Aufzählung unvollständig. Und selbstverständlich ist das Risiko nicht für alle Menschen gleich. „Das Besondere an der Covid-19-Pandemie ist, dass sie zwar das Alltagsleben fast aller Menschen verändert“, sagt Meinlschmidt. „Wie sich aber diese Veränderung – etwa die Einschränkung sozialer Kontakte – konkret auf einzelne auswirkt und sie belastet, ist höchst unterschiedlich.“ Manche Menschen seien derzeit sogar froh, „etwas mehr Ruhe und eine Auszeit zu haben.“ Andere belaste die Situation stark. Es überfordere sie, „nun alleine Aufgaben wie Home-Office, Kinderbetreuung und schulische Betreuung – Home-Schooling – gestemmt zu bekommen.“
Auf die besondere Gefahr für Menschen mit Depressionen weist auch die Kölner Psychologin Birgit Langebartels gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe hin: „Je nachdem, wie stark sich Betroffene bereits in ihrer Depression zurückgezogen haben, kann eine Quarantäne ihre Symptome nochmals verschlimmern.“ Es sei für diese Menschen wichtig, „jede Möglichkeit zu einem Austausch zu ergreifen, die sich uns bietet, beispielsweise via Telefon oder Video-Telefonie. Denn das heißt dann auch: Wir sind nicht alleine.“ Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen, sorgt sich zudem um Menschen mit einer bereits bestehenden Angststörung: Bei diesen „fördert die Corona-Krise das Grübeln über Katastrophen und damit eine Zunahme der Angst“.
Angstzustände in Wuhan
Li Wentien vom Deutsch-Chinesischen Alumnifachnetz für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wertete 2.144 Anrufe bei einer Notfall-Hotline während des Corona-Shutdowns im chinesischen Wuhan aus. Fast die Hälfte der Anruferinnen und Anrufer litt unter Angstzuständen, ein Fünftel hatte Schlafprobleme und jeweils ein Siebtel beklagte somatische Belastungen oder hatte Symptome einer Depression. Emotionale Zustände wie Einsamkeit, Müdigkeit oder Unruhe waren hingegen selten.[1]
All das heißt aber nicht, dass sämtliche Bürgerinnen und Bürger innerhalb der nächsten Wochen dringend eine Psychotherapie benötigen: Fast trivial ist die Erkenntnis, dass einige Menschen es ohnehin gewohnt sind, nur wenige soziale und körperliche Kontakte zu haben. Für sie ändert sich im Corona-Shutdown wenig. Und: „Für manche Personen ist ein gewisser Grad an social distancing auch durchaus angenehm“, sagt Psychologe Meinlschmidt.
Die Resilienz der Menschen ist verschieden
Außerdem ist die Resilienz der Menschen – also ihre psychische und körperliche Widerstandskraft – sehr unterschiedlich. Die einen werfen bereits Kleinigkeiten aus der Bahn. Andere überstehen sogar mehrfache Traumatisierungen ohne nachhaltigen Schaden zu nehmen. Verantwortlich dafür sind vermutlich sowohl von den Eltern geerbte genetische Faktoren als auch Erlebnisse aus der frühen Kindheit und dem späteren Leben. Eventuell spielen sogar die Zeit im Mutterleib und Erfahrungen der Eltern eine Rolle. Es gibt auch eine gute Nachricht: Belastende und anstrengende Erfahrungen können uns sogar stärker und widerstandsfähiger machen. Dazu sollten sie aber in Maßen daherkommen und mit der Erfahrung verbunden sein, sie bewältigen zu können. Für manche kann die Krise also auch zu einer Chance werden.
Wenn es uns gelingt, jetzt in der Corona-Pandemie bedürftige Menschen dabei zu unterstützen, möglichst viele positive Erlebnisse zu sammeln, könnten wir alle davon psychisch profitieren, ist auch Gunther Meinlschmidt überzeugt: „Wir sollten uns fragen, ob wir die Isolation auch für uns nutzen können.“ Warum nicht bewusst die Auszeit nehmen, nach der wir uns seit Jahren sehnen? Oder ein Buch lesen, endlich mal wieder auf dem verstaubten Musikinstrument üben und – wem danach ist: den sozialen Kontakt zu Freunden und Familienmitgliedern per Telefon oder Online-Videoschalte pflegen?
Wir brauchen „Erlebnisse positiver Überwindbarkeit“
Es sind die „Erlebnisse der positiven Überwindbarkeit von Belastungen“, die unsere Widerstandskraft auf Dauer stärken, weiß auch der Resilienz-Experte Klaus Fröhlich-Gildhoff. Er spricht von „Schutzfaktoren“, die sich im Laufe unserer Entwicklung aufbauen und bei Erwachsenen regelrechte Wunder vollbringen können: Lernen wir bereits im Kindergartenalter, mehr oder weniger ausgeprägte Krisen selbstständig zu überwinden, „erwerben wir soziale Kompetenz und gehen auch später entspannter mit Stress um“, sagt der Freiburger Kinder- und Jugendpsychologe. Vieles spricht dafür, dass wir lebenslang an unserer Resilienz arbeiten können.
Werden Belastungen hingegen übermächtig oder dauern unentwegt an, wird der von ihnen ausgelöste Stress toxisch. Dann steigt das Risiko für so genannte Stresserkrankungen. Das sind neben den oben bereits erwähnten psychischen Leiden auch Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie Stoffwechselstörungen wie Übergewicht und Diabetes und vieles mehr.
Damit es nicht so weit kommt, haben Psychologen einige Tipps parat:
- Man solle auf eine klare Tagesstruktur achten, übliche Schlaf-, Essens- und Arbeitszeiten einhalten und keinesfalls rund um die Uhr im Pyjama bleiben, rät zum Beispiel der Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen.
- Den Tag vorauszuplanen, schütze zudem vor dem Gefühl von Kontrollverlust und Hilflosigkeit.
- Medien sollten gezielt und nicht nebenbei konsumiert werden. Für Sicherheit und Orientierung sorgen zudem seriöse Informationen, während ein dauerhafter, wahlloser Medienkonsum eher verunsichere und Ängste erhöhe.
- Außerdem tue Humor gut.
- Schließlich sollten wir unbedingt auf ausreichende körperliche Aktivität achten: „Viele Studien zeigen, dass Sport eine antidepressive Wirkung haben kann.“ Ähnliches gilt übrigens für helles Tageslicht. Wer sich also bewegen möchte, sollte am besten im Freien spazieren gehen, Fahrrad fahren oder joggen. Das unterstützt zudem die biologische Rhythmik und hilft indirekt, nachts tiefer und erholsamer zu schlafen.
Das Gefühl der Ohnmacht bekämpfen
Die „gesellschaftliche Mammutaufgabe“ ist laut Meinlschmidt aber, für die Alten zu sorgen. Für sie einkaufen, sich aus der Ferne mit ihnen unterhalten, eine offene, kommunikative Nachbarschaft ohne körperliche Nähe pflegen: All das sei derzeit wichtiger denn je, zumal wir kaum abschätzen können, wie lange die Krise noch andauern wird. „Wie kümmere ich mich um die Mutter, die im Krankenhaus liegt, und die keinen Besuch mehr empfangen darf?“ fragt der Psychologe. Wie schützt man die Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind – darunter vor allem Frauen und Kinder? Wie bekämpfe man „das Gefühl der Ohnmacht, sich nicht ausreichend um jene kümmern zu können, die in Not sind“? Auf solche Fragen müssten wir die richtigen Antworten finden.
Vor allem gilt es, die psychisch besonders verwundbaren Menschen aufzuspüren. Es sind jene, die durch die Folgen der Corona-Krise langfristig Schaden nehmen dürften. Zu ihnen gehören viele Senioren, Kinder und Erwachsenen mit gewalttätigen Partnern und Partnerinnen oder Eltern, aber natürlich auch alle Menschen, die ohnehin bereits an chronischen körperlichen oder psychischen Krankheiten leiden. Viele von ihnen benötigen professionelle Hilfe. Nicht nur Meinlschmidt sieht große Herausforderungen auf Deutschlands Psychologen zukommen. Eine „gesamtgesellschaftliche Anstrengung“ sei gefordert, vergleichbar mit den „so genannten Bazooka-Maßnahmen zur Abfederung der negativen Folgen des Shutdowns auf die Wirtschaft.“
Eine Liste mit Anlaufstellen für den Notfall stehen am Ende dieses Artikels. Niemand sollte sich scheuen, dort um Rat zu fragen. Außerdem könnten begleitete Online-Angebote für Personen, die die derzeitige Situation besonders belastet, eine Lücke schließen, hofft Meinlschmidt.
Quellen und weiterführende Informationen:
- Telefonseelsorge: Tel.: 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222
- Krisendienst Psychiatrie
- Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Tel.: 030 2787850
- Deutsche Angststörungen-Hilfe und –Selbsthilfe: Tel.: 089 / 51 55 53 15
- Hilfen für Frauen bei häuslicher Gewalt: Tel.: 030-611 03 00, Big-Hotline
- Ratgeber Psychotherapie der bayerischen Betriebskrankenkassen
- Fachartikel „Gestresst als Fötus, krank als Erwachsener?“
- Fachartikel „Leiden mein Schlaf und die biologischen Rhythmen, wenn ich weniger nach draußen gehe?“
Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin Erbe & Umwelt bei RiffReporter erschienen und wurde als 7. Teil der Epigenetik-Serie für unseren Blog in einer autorisierten, leicht gekürzten Version übernommen.
Lust auf mehr? Hier findest du alle bisherigen Beiträge der Epigenetik-Reihe.
Mehr von Peter Spork gibt es in diesem Video (von unserem YouTube-Channel).
„Gesundheit ist kein Zufall“ heißt der Vortrag, den er 2019 für die Belegschaft der BKK ProVita hielt und den wir aufzeichnen durften.
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